Schwarz-weiß.

Ich habe schon im März an dieser Stelle zu Twitter geschrieben. Und wahrscheinlich wird sich dieser Beitrag gar nicht großartig davon unterscheiden. Twitter ist für mich aktuell ein bisschen wie ein Autounfall: Ich muss hinsehen, ich kann nicht ohne, aber bin dann doch nicht zufrieden. Sondern mache es ungläubig, aufgeregt, genervt oder entmutigt wieder zu.

Der confirmation bias ist jetzt nichts wirklich Neues, jedenfalls nicht, wenn man fünf Jahre Medien- und Kommunikationswissenschaft studiert hat. Dass die Medien so funktionieren, dass soziale Medien so funktionieren, dass Filterblasen sich nach diesem Mechanismus bilden, das ist mir alles klar. Und während ich obigem Tweet zustimme, merke ich doch, dass meine Timeline irgendwie so nicht funktioniert. Täte sie es, würde ich vielleicht weniger „von der Welt mitkriegen“, wäre aber vielleicht auch weniger genervt.

Gefühlt kriege ich zu jedem Thema, egal was es sein mag, egal aus welcher Szene es kommt, immer zwei Seiten zu sehen. Wo ist da die confirmation? Mir bestätigt es nur, dass ich mich häufig wie zwischen den Stühlen fühle. Denn zwei Seiten bedeutet: Zwei Meinungen. Und jeder meint, seine wäre die (einzig) richtige. Zwei Seiten bedeutet aber auch: Schwarz-weiß. Ja oder nein. Richtig oder falsch. Ein dazwischen scheint es nicht (mehr) zu geben.

Die letzten „großen“ Beispiele, bei denen mir dies deutlich wurde, kamen aus England: Zunächst ging es um Dominic Cummings, den Berater von Boris Johnson, über den bekannt wurde, dass er mit seiner an Corona erkrankten Frau und seinem Kind gut 400 Kilometer von London zu seiner Familie nach Durham gefahren ist. Seine Eltern und Schwester hatten sich erboten, sich um das Kind zu kümmern, sollte er auch krank werden. Nun bin ich wahrlich kein Fan von Dominic Cummings und mindestens das Verlassen des Hauses seiner Frau, bei der das Virus bestätigt war, verstößt gegen die Regelungen in Großbritannien. Andererseits denke ich mir, so ganz im Stillen für mich, wenn seine Familie einverstanden war, wenn sie mit dem Auto gefahren sind, wenn die Familie unterwegs zu niemandem Kontakt hatte, ist es dann wirklich so dramatisch?

Solche Stimmen las ich aber nirgendwo. Nein, meiner Timeline zufolge hätte man glauben können, Cummings habe unterwegs wissentlich tausende von Menschen umarmt, um sie alle absichtlich anzustecken. Ich verstehe, dass viele das Gefühl bekommen, es gebe strenge Regeln für sie und andere/keine Regeln für Cummings (oder Politiker im allgemeinen). Aber es ist auch leicht zu urteilen, „das geht gar nicht“, zu fordern, er oder am besten gleich die ganze Regierung trete zurück, wenn man selbst nicht in der Position ist, in der er (vielleicht? vermutlich?) war.

Keine glückliche Aktion, keine Frage. Und schlecht für das sowieso nicht gerade brillante Ansehen von Boris Johnson und seiner Regierung in dieser Zeit. (Umso mehr, wenn dann noch herauskommt, dass Cummings vor der Rückfahrt nach London erst knapp 50 Kilometer (erneut mit Frau und Kind im Auto) gefahren ist, um zu testen, ob seine Sehfähigkeit durch Corona eingeschränkt worden sei, und sie dann noch ein wenig im Wald spazieren gewesen wären. Allerdings kam das erst später heraus und da schwand dann auch mein Verständnis.) Aber gibt es nicht trotzdem zwischen „Alles falsch gemacht“ und „Nichts falsch gemacht“ noch etwas? Eine Mitte?

Twitter funktioniert so nicht, wahrscheinlich kein soziales Medium funktioniert so. Auf Twitter kommt noch die Zeichenbegrenzung hinzu, die komplexe Sachverhalte darzustellen schnell schwierig macht. Wahrscheinlich kann (oder muss) man sogar sagen, auch Politik funktioniert (immer öfter) nicht so. Ja oder nein. Eins oder zwei. Nichts dazwischen.

Am Dienstagabend gab es dann eine in der Tat erstaunliche Einleitung der Sendung Newsnight auf BBC2 von Moderatorin Emily Maitlis zu genau diesem Thema. „Dominic Cummings hat gegen die Regeln verstoßen. Die Bevölkerung weiß das und ist schockiert, dass die Regierung das nicht zugibt“, sagt sie da. „Boris Johnson weiß um die Folgen und ignoriert sie.“ Fakten? Ihre Meinung? Oder nur ein – unglücklich formulierter – Anreißer der Themen, die im Laufe der Sendung besprochen werden sollen?

Alles egal. Twitter auf. Die einen: „Endlich spricht mal jemand die Meinung. Bravo.“ Und Empörung, dass sie in der Sendung am nächsten Abend nicht da war. Ihrer Aussage nach auf eigenen Wunsch – aber nein, die BBC hat sie abgesetzt. Die anderen: „Unglaublich, was sie/die BBC sich da rausnimmt. Sie muss neutral sein und Fakten präsentieren, nicht ihre eigene Meinung.“ Twitter wieder zu.

Jeder hat eine Meinung. Und jeder meint alles zu wissen. War es ein Alleingang von ihr? Ist sie „abgesetzt“ worden oder hat sie freiwillig die nächste Sendung ausgesetzt? Auch das Ansehen der BBC ist schon länger mehr als nur ein bisschen angekratzt und auch da hilft so eine Diskussion nicht. Wobei – kann man es Diskussion nennen? Wenn es nur Meinungen gibt? Die auf Vermutungen basieren, die in vielen Fällen wohl nur Vermutungen sind – denn niemand weiß genau, was sie sich dabei gedacht hat, welche Absprachen und Vorbereitungen es gab, wie die Aussagen gemeint waren, aber jeder meint es zu wissen.

Es kann doch nicht nur Schwarz und Weiß geben. Wo ist das Grau? Wo ist die Mitte? Wo sind die ganzen Meinungen zwischen den beiden Polen? Die Abwägungen? Die Ja, abers. Oder die Nein, abers. Wo ist das Abwarten, bis man mehr (alle) Hintergründe kennt, bevor man seine Meinung bildet oder ein Urteil fällt.

Schwarz und weiß. Nur zwei Beispiele, es gäbe unzählige mehr, auch aus deutschen Kontexten. Ich weiß nicht, ob das mehr wird – die eigene Meinung als Fakt verkaufen und immer und zu allem eine haben – oder ob es mir nur mehr auffällt. Ich weiß nicht, ob es ein Phänomen ist, das auf Twitter besonders stark auftritt. Ich weiß nicht, ob es nicht vielleicht auch das Grau dazwischen gibt und ich es nur in all dem übersehe. Ich weiß nur, dass ich diese Art der Diskussion, der Konversation, des Austauschs wahnsinnig anstrengend finde. Dass ich irgendwann nicht mehr weiß, was ich eigentlich glauben soll. Wem ich glauben soll.  Dass es mich ungemein nervt, alles hinterfragen zu müssen, wenn von so vielen die eigene Meinung als unumstößlicher Fakt kundgetan wird.

Und dass ich trotzdem Twitter immer und immer wieder aufmache. Weil es zwischen all dem auch wirklich schöne Dinge gibt – da ist dann aber meistens keine Politik im Spiel.