Es gibt nicht viele Menschen, oder Musiker, die ich als genial bezeichnen würde. Tim Minchin ist aber einer der wenigen. Er ist witzig, intelligent, in höchstem Ausmaß musikalisch, und hat keine Scheu vor einem offenen Wort (oder vielen). Mein Gefühl sagt mir, dass er hier in Deutschland nur recht wenig bekannt sein dürfte, und auch wenn dieser Artikel auf meinem kleinen Blog daran nicht wirklich etwas ändern wird, habe ich schon lange diesen Post geplant.
Also Achtung: Das hier ist ein sogenannter „appreciation post“, wie es auf tumblr auch gerne genannt wird. Lobhudelei, könnte man auch sagen.
Tim Minchin stammt aus Perth in Australien und hat seine Karriere im Grunde als Comedian begonnen, obwohl er eigentlich schauspielen wollte und/oder Musik für’s Theater schreiben wollte. Seinen Durchbruch hatte er 2005 auf dem Melbourne International Comedy Festival und kam von dort aus zur Edinburgh Festival Fringe und zu Bekannt- und Berühmtheit in Großbritannien.
Ich bin nicht häufig für Comedy zu begeistern und noch seltener für die dumpfe Art, wie sie überwiegend im deutschen Fernsehen zu sehen ist. Comedy verpackt in Songs schafft es da natürlich schon eher. Und dann ist da noch die Frage, ob das, was Tim Minchin macht/gemacht hat, mit „Comedy“ überhaupt korrekt beschrieben ist? Denn natürlich unterhält es und ist irrsinnig lustig (finde ich jedenfalls), aber in den meisten seiner Stücke steckt irgendwo auch eine Botschaft. Minchin ist bekennender Atheist und so spielen religiöse Themen häufig eine Rolle in seinen Songs. Aber auch andere gesellschaftliche Probleme, wie zum Beispiel das Ausmaß von Plastiktüten („Canvas Bags“), politische Themen („Peace Anthem for Palestine“) Tabus oder Dinge wie die die Macht eines einzelnen Wortes („Prejudice“) sind Gegenstand seiner Comedy.
Seine Lieder sind eingängig und haben absolutes Ohrwurm-Potential und die Texte reichen von witzig bis faszinierend bis nachdenklich. Einige Zeilen aus „The Good Book“, über die ich mich jedes Mal kringelig lachen könnte:
I know the Good Book’s good because the Good Book says it’s good/I know the Good Book knows it’s good because a really good book would/You wouldn’t cook without a cook book and I think it’s understood/You can’t be good without a Good Book ‚cos it’s good and it’s a book/(And it is good for cooking)
Ja, so einfach bin ich zu erheitern.
Mir ist Tim Minchin zum ersten Mal über den „Weg gelaufen“, als ich die Arena Tour von Jesus Christ Superstar (leider nur auf DVD) gesehen habe. Die eine Rolle, die er schon immer hatte spielen wollen, war die des Judas in eben „Jesus Christ Superstar“ von Andrew Lloyd Webber und Tim Rice – und wenn man ein wenig um seine Ansichten zu Religion kennt, dann passt diese Rolle einfach wie die Faust auf’s Auge. Ich habe, allerdings erst danach, auch den Original-Film von JCS gesehen, habe das Konzept-Album gehört – aber mein Judas wird für mich immer Tim Minchin sein. Leider gibt es auf YouTube nur einen kurzen Ausschnitt von „Superstar“ zu sehen, aber auch der zeigt schon ganz gut, wie sehr Minchin in diese Rolle passt und wie viel Spaß ihm das gemacht haben muss.
Mit der Rolle in „Jesus Christ Superstar“ war Minchin quasi zurück auf einer ganz großen Bühne (er war vorher immer wieder in kleineren Produktionen vor allem in Australien zu sehen gewesen), aber zurück zum Theater und den Musicals kam er auch auf andere Weise: 2010 begann in Stratford-upon-Avon das Musical „Matilda„, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Roald Dahl, seine Erfolgsgeschichte, für das Tim Minchin Musik und Liedtexte geschrieben hat. „Matilda“ transferierte schnell in’s West End und an den Broadway, spielt dort seit mittlerweile sechs bzw. vier Jahren, hat unzählige Preise gewonnen und hält unter anderem den Rekord für die meisten Olivier Awards für ein Musical.
Auch bei „Matilda“ faszinieren mich Musik und Texte gleichermaßen: „When I grow up/I will be smart enough to answer all/The questions that you need to know the answers to/When you’re a grown-up“. Ist das nicht ziemlich wunderhübsch – die Welt und das Erwachsensein beschrieben aus Kindersicht, geschrieben von einem Erwachsenen? „Naughty“, „When I Grow Up“ und „My House“ sind die Songs des Musicals, die am häufigsten in Fernsehshow, bei Preisverleihungen oder anderen Einzelauftritten gesungen werden. Und wenn natürlich die Songs so, wie sie im Musical aufgeführt werden und von den Darstellern und Schauspielern, wunderschön sind, ist es immer noch einmal etwas Besonderes, wenn Tim Minchin selbst „My House“ singt.
Oder auch „Seeing You“ – denn nach „Matilda“ hat Minchins zweites Musical, „Groundhog Day“, basierend auf dem gleichnamigen Film („Und täglich grüßt das Murmeltier“), es nun in’s West End und an den Broadway geschafft und gerade erst zwei Olivier Awards für das beste neue Musical und den besten Schauspieler gewonnen. „I thought the only way to better days was through tomorow/But I know now that I know/Yes I know now that I know nothing.“ Minchin am Klavier, mit Orchesterbegleitung, vor Tausenden von Zuschauern im Hyde Park – ziemlich berührend, ziemlich wunderschön. („Seeing You“ ab 10:03, falls jemand nicht alles gucken will.)
Weil Tim Minchin, ganz alleine, nur am Klavier, aber nochmal eine Spur besser ist: Hier noch „My House“ von den Olivier Awards 2013.
Völlig egal ob mit oder ohne Kajal und Schuhe (zu seinen Comedy-Zeiten ist er prinzipiell barfuß aufgetreten, deswegen bei „The Good Book“ die Bemerkung mit dem Stiefel und deswegen die vielen Kommentare à la, das kann nicht Tim sein, der trägt ja Schuhe) – Tim Minchin ist niemand, der sich nur für sich selbst und seinen Erfolg interessiert. Er kommentiert und bewertet politische und gesellschaftliche Ereignisse, überwiegend per Twitter, und setzt sich ein für benachteiligte Menschen und Gruppen. Jeden November, Dezember und Januar gehen alle Erlöse aus dem Verkauf seines Songs „White Wine In The Sun“ an die National Autistic Society. Übrigens ein wunderbares, wenn auch völlig anderes, Weihnachtslied, bei dem ich ja jedes Mal anfangen könnte zu heulen.
And yes, I have all of the usual objections/To consumerism, the commercialisation of an ancient religion/To the westernisation of a dead Palestinian press-ganged into selling playstations and beer/[…]And if, my baby girl/When you’re 21 or 31, and Christmas comes around/And you find yourself 9000 miles from home/You’ll know what ever comes/Your brothers and sisters and me and your mum/We’ll be waiting for you in the sun.
Viel Aufmerksamkeit, viel Aufsehen und viel Kritik hat Minchin im letzten Jahr sein Song „Come Home (Cardinal Pell)“ eingebracht. Die ausführliche Hintergrund-Info dazu gibt es hier – die Kurzform: Kardinal George Pell, der höchste Kopf in der Catholic Church of Australia, sollte vor der Royal Commission in Australien aussagen, die den sexuellen Missbrauch von Kindern innerhalb der Kirche untersuchte. Pell, der im Vatikan war, verweigerte die Anreise (und Aussage) aus gesundheitlichen Gründen. Seine Aussage hat er schließlich per Videoschaltung gemacht und fünfzehn Überlebende der Missbrauchsvorfälle konnten dank zahlreicher Spenden – unter anderem aufgrund bzw. aus Erlösen des Songs – nach Rom fliegen und Kardinal Pell von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen, während er seine Aussage dazu machte, was er von den Vorfällen mitbekommen habe (oder was nicht).
Man kann ganz sicher geteilter Meinung sein über die Sprache, die Minchin in diesem (und anderen) Liedern verwendet. Man kann wohl nicht daran zweifeln, dass auch dieser Song ein Ohrwurm ist Minchin sich eines unglaublich wichtigen Themas angenommen hat und diesem – durch seinen Song und vielleicht auch gerade durch die darin verwendete, für viele provozierende Sprache – zu viel mehr Aufmerksamkeit verholfen hat.
Ich sehe über das x-te f**k leicht hinweg, erfreue mich stattdessen an Zeilen wie „I hear the tolling of the bell and it has a Pellian knell“ (ich sagte bereits, dass ich leicht zu erheitern bin!?) und bin fasziniert von dem raffinierten Übergang zu und der Einblendung von Händels „Halleluja“.
Tim Minchin ist nicht nur witzig und intelligent, sympathisch – soweit man das medial beurteilen kann – und hat diese Art von Musikalität, die man entweder hat oder nicht, die nicht erlernbar ist, er schreibt nicht nur eigene Songs und ganze Musicals und spielt ab und an selbst Theater (neben „Jesus Christ Superstar“ 2013 auch in „Rosencrantz and Guildenstern are Dead“): Er kann auch Film und Fernsehen. „The Secret River“ war zwar wirklich nicht leicht zu verfolgen und zu verstehen, weil ich solche australischen Akzente wirklich noch nie gehört hatte, aber eine tolle, leider viel zu kurze australische TV-Serie. Und aktuell dreht er mit Schauspielern wie Jamie Foxx eine neue Version von „Robin Hood“.
Ich habe fertig. Wer kennt/kannte Tim Minchin schon? Meinungen?