Eigentlich ist der obige Titel irreführend. Genaugenommen, müsste dort stehen: 11/2017 – 02/2018. Denn ich habe sage und schreibe viereinhalb Monate gebraucht, um endlich dieses eine Buch durchzulesen. Ganz optimistisch hatte ich es vor dem Urlaub in Makkum in den Herbstferien angefangen, in der naiven Hoffnung, dort gut damit voranzukommen und es bald zu beenden. Nun denn – das war wohl nix.
Dazu gibt es eine Vorgeschichte – denn dieses war schon mein zweiter Versuch, diesen Roman zu lesen. Ich habe ihn schon vor einigen Jahren geschenkt bekommen (und habe sogar noch einen zweiten Roman desselben Autors im Regal stehen, an den ich mich bisher nicht „rangetraut“ habe), der Inhalt versprach interessant zu werden, aber an irgendeiner Stelle, die ich jetzt beim erneuten Lesen auch nicht mehr wiedergefunden habe, musste ich einfach abbrechen. Dazu später mehr.
Edward Rutherfurd: London
Knaur Taschenbuch Verlag
„London“ erzählt die Geschichte eben genau jener Stadt – die Geschichte Londons durch die Jahrzehnte, Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg. „Eine Zeitreise durch zweitausend Jahre bewegte Vergangenheit und eine Liebeserklärung an eine der größten Metropolen der Welt“, heißt es im Klappentext und ja, das stimmt. Vor allem ist dieses Buch auch das Ergebnis einer unglaublich umfassenden Recherchearbeit. Unabhängig davon, wie sehr mir das Buch bzw. die Lektüre gefallen hat, muss man dem einfach erst einmal Respekt zollen.
Der Roman beginnt 54 vor Christus mit dem ersten Kapitel, betitelt „Der Fluss“. Der Fluss ist natürlich die Themse, zu diesem Zeitpunkt aber noch „der Fluss“ genannt. Und die Bewohner des kleinen Ortes, der sich dort am Fluss entwickelt hat, sind Kelten. Eine Familie ist darunter, die den Leser auf seiner Zeitreise durch die Geschichte Londons begleitet. Vom „Fisher“ stammen einfache Arbeiter ab, Simon der Waffenschmied, das Findelkind Geoffrey Ducket, der in eine reiche Handelsfamilie einheiratet, später der Alderman Sir Jacob Ducket und schließlich einige Earls of St. James. Die Nachkommen dieser keltischen Familie bleiben in Londinos, wie der Ort zunächst genannt wird, bevor sein Name zu Londinium und schließlich zu London wird. Sie bleiben dort während der römischen Besatzung, auch nach der Eroberung durch den Normannen Wilhelm, sie bleiben in der Zeit der Plantagenet, der Tudors, der Stuarts, durch das georgianische und viktorianische Zeitalter bis in die Gegenwart.
Der Roman erzählt also in 21 Kapiteln die Geschichte dieser Familie und einiger weiterer, die im Verlaufe des Buches dazustoßen – Sachsen, Normannen, Dänen, Flamen, Hugenotten – und erzählt dabei die Geschichte der Stadt. Denn die verändert sich rasch und stetig: Sie wird immer größer, die Könige und Regierungen wechseln, es kommen ständig neue Einwohner aus verschiedenen Ecken des Landes und später der Welt, die eigene Sitten und neue Gewohnheiten mitbringen und die Stadt und das Leben in ihr prägen. Ob Bürgerkriege oder die Blütezeit des Theaters unter Elizabeth I und den Stuarts, das große Feuer oder, die industrielle Revolution -all das verändert die Stadt, ständig, und ich wette, Rutherfurd könnte heute (der Roman erschien im Original 1997) schon zwei weitere Kapitel ergänzen.
All das legt Rutherfurd in diesem Roman sehr plastisch dar, veranschaulicht eben an dem Leben der Protagonisten bzw. der Familien, deren Werdegang und deren gesellschaftlichen Auf- und gelegentlich auch Abstieg der Leser miterlebt. Damit man nicht vollends den Überblick verliert, gibt es zu Beginn eine Art Stammbaum, auf dem die Familien verzeichnet sind und der jeweilige Nachkomme in den verschiedenen Kapiteln. Außerdem gibt es eine Karte von Großbritannien und vier Karten der Stadt London, zu römischer und angelsächsischer Zeit, im Mittelalter und im georgianischen und viktorianischen Zeitalter sowie eine mit allen Stadtbezirken und Vororten.
Das hilft ungemein – und gleichzeitig hat es mir das Lesen quasi auch ein bisschen vermiest. Wenn ich lese – und wenn ich ein solches Buch lese, das so reich ist an Informationen und Wissen – dann lese ich es nicht wie einen Krimi einfach runter, sondern dann will ich auch allen Mehrwert aufnehmen, den das Buch mir bieten kann. Und das bedeutet, dass ich zum Teil alle paar Absätze wieder zurück nach vorne geblättert und auf der Karte verfolgt habe, wo sich eine Figur jetzt genau gerade bewegt, wenn sie beispielsweise über die Candlewick Street in Richtung St. Paul’s läuft. Das lässt natürlich keinen wirklichen Lesefluss aufkommen und macht die Lektüre dann zwar sehr informativ, aber wenig unterhaltsam. Und ist mit ein Grund, warum ich so ewig für gut 800 Seiten gebraucht habe.
Denn der Roman ist unglaublich detailliert: Häuser und Gebäude, Straßenzüge, aber auch Kleidung und Gebahren von Personen, das Verwaltungssystem, die Berufe und Arbeiten der Personen – alles wird bis in’s kleinste Detail beschrieben. Wirtschaft, Soziales, Kulturelles, jedes wichtige Ereignis (die Magna Charta, die Bauernrevolte von 1381, die Reise der Mayflower, der Bau von St. Paul’s, bis hin zum Blitzkrieg), unglaublich viele historische Personen (von den Königen über Geoffrey Chaucer und William Shakespeare hin zu Thomas und Oliver Cromwell) – Rutherfurd behandelt alles. Allerdings fehlt dann häufig doch ein wenig der rote Faden, mir jedenfalls – allein die Tatsache, dass es sich um immer wieder dieselben Familien handelt, reicht dann doch nicht, wenn teilweise mehrere hundert Jahre zwischen den Kapiteln liegen. Und gleichzeitig ist es aber auch wieder faszinierend zu sehen, wie durch einen Schicksalsschlag ein und dieselbe Familie in einen reichen, aristokratischen, und einen bettelarmen Zweig aufgespalten wird, und die späteren Generationen immer wieder Berührungspunkte miteinander haben, ohne aber voneinander zu wissen.
Ich weiß nicht mehr, an welchem Punkt ich beim ersten Mal Lesen das Buch aus der Hand gelegt und tatsächlich jahrelang nicht noch einmal (außer bei diversen Umzügen) angefasst habe. Ich weiß noch, dass damals mein Problem war, die Familien auseinander zu halten bzw. zuzuordnen, wer jetzt eigentlich zu wem gehörte. Auch das kann verwirren, allerdings habe ich den Protagonisten dieses Mal deutlich weniger Platz eingeräumt und mich eben mehr mit der Stadt und ihrem Aussehen, den Straßen, der Geografie beschäftigt.
Dann kam auch noch dazu, dass ich mit der Sprache und dem Stil, in dem der Roman geschrieben ist, nicht so ganz warm wurde. Rutherfurd wechselt – zum Teil innerhalb eines Absatzes – aus der fiktiven Erzählung von seinen eigenen Protagonisten in die sachliche Darstellung der Stadt, eines Ereignisses, eines Sachverhaltes.
„Da erkannte David, dass sein mächtiger Vater nicht nur die falsche Einstellung hatte […], sondern dass Gott ihn tatsächlich so geschaffen hatte. Dies hatte er bislang nicht gewusst. Aber es stimmte. Die normannische Herrschaft und die der Plantagenets hatten in der englischen Gesellschaft eine enorme Veränderung hervorgeufen, von der nur London verschont geblieben war. Der angelsächsische Edelmann war stolz auf seine kämpferischen Ahnen gewesen, aber sein Stand hatte sich vor allem auf seinen Reichtum gestützt. […] Diese Vorstellung von Adel sollte die englische Gesellschaft noch lange verunsichern.“
Dieser sehr häufig und nicht selten auch sehr abrupte Wechsel aus der Perspektive eines der Protagonisten hin zum allwissenden Erzähler, der zurückschaut und vorausblickt und Situationen und Ereignisse in einen größeren Kontext oder die Gesamtgeschichte einordnet, hat mich erst gestört und irgendwann genervt, ohne dass ich genau sagen könnte, weshalb.
Es bleibt letztlich dabei, dass man aus diesem Buch eine ganze Menge lernen kann und dass ich viel Neues über London, die Geschichte und Entstehung der Stadt, mitgenommen habe. Allerdings bin ich ja grundsätzlich auch Sachbüchern nicht abgeneigt und frage mich jetzt, nach dem Ende der Lektüre, ob ein Roman so die passende Form dafür ist, wenn man eben Sachverhalte darlegen möchte. Denn die Figuren und Familien sind mir in keiner Weise irgendwie nahe gekommen oder gar an’s Herz gewachsen. Sie sind im Grunde nur Beiwerk – der eigentliche Star dieser Erzählung ist die Stadt selbst. Die wäre zwar nichts ohne ihre Bewohner – aber die muss ich nicht so genau kennen, um die Stadt kennenzulernen.
Es war spannend, es war lehrreich, aber nicht unbedingt unterhaltsam, dieses Buch. Jetzt brauche ich auf jeden Fall erst einmal etwas „leichtere Kost“.