Gestern Abend habe ich Jesus Christ Superstar gesehen. Ja, in der Zeit vor Ostern gehört das für mich irgendwie dazu. Das Musical mag zwar weder historisch noch theologisch korrekt sein, aber mindestens, was das Historische angeht, können wir ja sowieso nicht mit vollkommener Sicherheit sagen, was korrekt ist und was nicht.
Mit diesem Musical verbinde ich eine Menge: Ich habe die Version gesehen, die 2012 und 2013 in Arenen und Stadien auf Tour gegangen ist. Die Version, für die zuvor auf dem britischen Sender ITV in einer Castingshow von Andrew Lloyd Webber höchstpersönlich der Kandidat für die Jesus-Rolle gesucht wurde. Die Arena Tour-Version war die erste, die ich von JCS gesehen habe, die früheren Filme und Aufnahmen habe ich erst anschließend gesehen und gehört und für mich kommen sie nicht an diese, meine Lieblingsversion, heran.
Die Casting-Show, „Superstar“, und das Musical haben mich im Übrigen auch zu einer, mal mehr mal weniger intensiven, Beschäftigung mit der Musical-Szene im Allgemeinen und dem West End (und etwas weniger noch dem Broadway) insgesamt geführt – dafür schätze ich Twitter unheimlich, dort in Kontakt kommen zu können mit anderen Begeisterten, aber zum Teil auch den Schauspielern selbst.
Zurück zum Thema: Jesus Christ Superstar hat aber, wenn man so will, auch auf der inhaltlichen Ebene bei mir etwas ausgelöst. Bis dahin hatte sich noch recht fest bei mir das (sehr schwarz-weiße) Bild von Jesus, dem Guten, und Judas, dem Bösen, gehalten. Jesus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist, um sie zu erretten, der für uns alle gestorben ist und uns dadurch erlöst hat. Und Judas, der irgendwie „Schuld“ daran war, weil er ihn verraten hat. Dieser Verräter.
Ja, ein sehr „einfaches“ Bild. Und völlig unabhängig davon, ob und wie man Jesus Christ Superstar dafür kritisieren kann oder muss, wie es mit historischen Gegebenheiten und der biblischen „Vorlage“ umgeht, hat das Musical bei mir dieses Bild verändert. Hat mir neue Perspektiven aufgetan – und tut es immer noch, mit jedem Mal, das ich es wieder ansehe. Jesus ist nicht der Gute, nicht das Opferlamm, das zur Schlachtbank geführt wird – jedenfalls nicht nur. Und Judas verrät ihn nicht aus Jux und Dollerei – er hat gute Absichten, er tut es, aus seiner Sicht, für die gemeinsame Sache. Letztendlich aus Liebe. Und leidet, als er erkennt, von Gott für seinen Plan benutzt worden zu sein, so sehr, dass er sich erhängt.
Als ich gestern so auf meinem Sofa saß und mir das alles anschaute, ertappte ich mich – auch nicht zum ersten Mal – immer wieder bei dem Gedanken, dass mir Jesus zu selbstmitleidig wirkte. Nun ist es sicherlich nicht leicht, quasi sehenden Auges in den Tod zu gehen, aber diese Seite, diese natürlich zutiefst menschliche Seite, auch die passt nicht zu dem Bild von Jesus, das ich lange Jahre hatte. Ein Bild, das ihn verklärt hat, in dem er zwar als Menschensohn bezeichnet wird, aber doch irgendwie immer mehr Gott als Mensch war.
Und dann dachte ich etwas weiter und überlegte konkret, weshalb er auf mich so „jammerig“ wirkte. Da sind Texte wie „will I be more noticed than I ever was before“ oder „If I die what would by me reward“. Und dann ist da natürlich noch der Schauspieler, der sie spricht bzw. singt. Ben Forster, der oben angesprochene Casting-Show gewonnen hatte, ist ein großartiger Sänger, der mit JCS seinen großen Durchbruch hatte und seitdem viele weitere Rollen im West End und anderswo gespielt hat, darunter auch das Phantom in Lloyd Webbers Phantom der Oper. Liegt es an ihm? Da sind Dinge in seinem Schauspiel, seiner Mimik, die zeigen, wie genervt er ist von dem Kult um seine Person, von der Ignoranz und Naivität seiner Jünger und weiteren Anhänger. Wobei es falsch wäre, dieses nun ihm persönlich anzulasten, im Zweifel waren das Entscheidungen von Direktoren, Produzenten oder Lloyd Webber persönlich.
Auch wenn Jesus die Titelrolle ist, wenn er mit „Gethsemane“ (und diesem einen Ton) seinen berühmten großen Auftritt hat – für mich ist Judas bzw. in dieser Aufnahme Tim Minchin der eigentliche Star der Show. Judas hat den ersten („Heaven On Their Minds“) und den letzten („Superstar“) Song und unzählige weitere große Auftritte und Momente dazwischen. Seit JCS bin ich großer Fan von Tim Minchin, den ich erst dadurch kennenlernte, und seinen Werken: Er ist Comedian, vielleicht eher Kabarettist/Satiriker, der barfuß am Piano riesige Hallen füllt und dessen Lieder sich häufig um gesellschaftsrelevante, politische, soziale Themen drehen. Außerdem ist er Schauspieler (ich empfehle dringend die Serie „Upright“ aus dem letzten Jahr) und Komponist, unter anderem der Musicals Matilda und Groundhog Day. Er ist Atheist – und der perfekte Judas, der diese Rolle für mich besser verkörpert als jeder andere, den ich bisher sehen konnte: Musikalisch bzw. gesanglich herausragend und mit so viel Emotionen, dass Judas für mich eben mehr wurde als nur „dieser Verräter“.
Davon abgesehen finde ich speziell die Arena Tour-Version großartig, weil sie die Handlung in die heutige Zeit überträgt, weil die Musik – mit Live-Band auf der Bühne – und der Gesang unglaublich kraftvoll ist, und wahrscheinlich auch einfach, weil es diejenige ist, die ich als erstes kennengelernt habe. Das macht ja doch auch immer etwas aus.
Für mein Empfinden wird, wenn es um eine andere Person als Jesus geht, häufig über Maria Magdalena (in dieser JCS-Version übrigens Melanie C) gesprochen. Judas kriegt irgendwie insgesamt wenig Aufmerksamkeit. Ich will jetzt aber mal recherchieren, ob (und bin mir eigentlich recht sicher, dass) es nicht auch lesenswerte Literatur über ihn gibt.
Passion: Nicht nur die Leidensgeschichte Christi in den Tagen vor Ostern. Sondern auch Liebe. Leidenschaft. Und das alles – ohne Kitsch – in einem Musical: Kein Wunder, dass „Jesus Christ Superstar“ mein Lieblings-Musical aus dem durchaus umfangreichen Werk von Andrew Lloyd Webber ist.